Kleines Wein Feuilleton

Kleines Wein Feuilleton

In Memory Ingo R.


Eine Person sitzt 2008 vor Luis Restaurant auf der Leonhardstrasse und schenkt mir ihr grell geschminktes Lächeln.  Ich weiß nicht, wem meine leichte Verbeugung gilt, auf jeden Fall ist sie voller Respekt. Mein Beruf hat mich nicht zwangsläufig die praktischen Seiten des Alltags gelehrt. Nur mittelbar durch eine relativ profunde Menschenkenntnis. Da sitzt offensichtlich eine, die das Aufsteigen und die Abstürze im Leben kennengelernt hat, die die Verteilung von Schuld und Dankbarkeit auf jene, die unsere Wege kreuzen, weder zur Zynikern noch zur Naiven hat werden lassen. Und die ihren Anteil am Gewinnen und Versagen einzuschätzen weiß. Dieses Lächeln weckt bei mir das Bedürfnis, mehr zu erfahren.

Trotz Latzhose, filterloser Zigarette und schweren Stiefeln sitzt da eine Lady.  Wegen der grazilen Art, ihre schmalen Handgelenke beim Rauchen zu verrenken und weil die Art ihres Lächelns darauf schließen lässt, dass sie die Männer kennt, bleibt nur diese Schlussfolgerung. Sie hat das Alter meiner Eltern. Ich glaube, deren Leben sah ganz anders aus.

Ich lade sie zu einem Wein ein, der ihr in einem Zinkbecher serviert wird. Ich kann nicht anders, als mir die elektrolytische Reaktion des Weines vorzustellen, während er Zink und Zähne verbindet und ziehe Luft durch Selbige. Sie fokussiert meinen Mund geraume Zeit und erläutert dann in aller Ruhe, dass sie in jeder Kneipe der Umgebung einen Zinkbecher deponiert habe. Sie heiße Ingo R. und das R sei nicht zu hinterfragen, erfahre ich.

Da ihre Leinenbluse absichtsvoll mit bunten Farbklecksen verziert ist, frage ich Iris, ob sie Malerin sei. Sie bejaht. Und belässt es dabei. Ping Pong. Ich bin schneller wieder am Zug als gedacht.

Ob sie sich in Dresden zu Hause fühle, lautet meine erste Frage. „Ja“, antwortet sie spontan, „allerdings nur auf dieser Seite der Elbe!“  Sie lacht ein trockenes Lachen, bei dem sich ihr hagerer Oberkörper krümmt wie unter Schmerzen und fährt fort: „Auf der anderen Seite lebt das Bildungsbürgertum in aller Selbstverständlichkeit seinen Traum von weltabgewandter Hochkultur und erwartet trotzig die Belobigung durch die Welt! Wir hier wissen und spüren, wie dünn die Bodendeckung über der Barbarei ist und dass sie eines Tages einbrechen wird. Das macht uns einerseits feierwütiger, dekadenter, andererseits verständnisvoller und in unseren Erwartungen nachlässiger im Umgang miteinander.“

„Ah“, sage ich, „… ein Kiez zeichnet sich nicht durch die Anzahl seiner Szenekneipen aus, sondern dadurch, dass Leute unterschiedlicher Konfession lernen, miteinander zu leben!“

 

Ingo sagt gar nichts, sieht mich nur an und pustet beständig Rauch über’n Tisch. Nachdem wir uns drei, vier Schlucke lang angeschwiegen haben, beugt sie sich vor und flüstert: „Du legst es darauf an, mich zu langweilen, oder?“

 

Der Kunsthistoriker Willhelm Uhde entdeckte in zum Ende des 19. Jahrhunderts in Paris die Bilder des Zollangestellten Henri Rousseau, des Postbeamten Louis Vivin, der Putzfrau Séraphine Louis sowie des Zirkusathleten Camille Bombois  und präsentierte sie 1928 in Paris in einer ersten Ausstellung als Maler des Heiligen Herzens. Diese Ausstellung gilt als Beginn der öffentlichen Wahrnehmung sogenannter Naiver Kunst. In Europa zumindest.

Nach dem zweiten Weltkrieg verlagerte sich der internationale Fokus im Interesse an Naiver Kunst auf den Balkan. Und ohne dies selbst rezipiert zu haben, muss ich feststellen, dass ich Ingos Mal – und sonstige Gestaltungsweise immer in dieser Himmelsrichtung verortet habe.

Nun ist Ingo R.‘s Kunst nicht im dem Sinne naiv, als dass sie einer kindlichen Weltsicht entspringt, vielmehr drängte sie konsequent mehr als ein halbes Jahrhundert darauf, uns die Schönheiten guter Menschen und guter Dinge anzudienen.

Und das muss man durchhalten. Über die Jahre. In dieser Zeit. Als äußerst hilfreich dabei erweist sich sicher der Umstand, dass sie uns allen als Zeitgenosse der wilden sechziger Jahre dienen kann. Da haben unsere Freiheitsbegriffe und, unter anderem, unsere musikalischen Selbstverständlichkeiten, ihren Ursprung.

Eines Tages durfte ich in eines ihrer dicken Tagebuch – Folianten sehen.  Die erste Seite ist auf 1979 datiert. Zuerst konnte ich sie auf dem ersten Schwarzweißfoto nicht identifizieren, bis sie ungeduldig auf eine behauene und bemalte Holzstele tippte, hinter der ein nacktes Bein und der Kopf einer jungen Frau mit Tolle und rasiertem Nacken hervorlugen. „Das war ein Plain Air auf dem Lande bei Zürich! Drei Tage wilder Jazzrock, Happenings, Malen und Bildhauen! Und beständiger Schneefall!“ (…) „Im Mai?“ Es dauerte eine Weile, bis bei mir der Groschen fiel.

 

Man sollte ihr zugehört haben und unbedingt ihre Arbeiten ansehen. Den noch Jungen sei das wegen des Altersunterschiedes, den Älteren im Osten wegen der Undurchlässigkeit der Mauer empfohlen.  Wir (also die Älteren im Osten) hatten natürlich unsere eigene Version der wilden Sechziger und haben sie (nicht ohne mauerbrechenden Erfolg) bis in die Achtziger ausgeweitet. Doch unser Antrieb war Hoffnung, nicht Wissen. Da blieben Enttäuschungen im Aufwachen nicht aus. Ingos Mal – und Sichtweise kann da sehr trostreich sein.

 

Ich habe einen Songtext meiner Band, der, glaube ich, auf sie passt:

Du bist echt.

bist keine Fälschung.

man läuft schnell an dir vorbei.

 

Du bist echt, bist keine Fälschung,

man läuft schnell an dir vorbei.

Zwischen all den aufgesetzten Egos

ist kein Platz für uns Zwei.

 

Die Erinnerung ist das einzige Paradies, aus dem wir nicht vertrieben werden können. Sagt Jean Paul.


JG 02 23

 

 





Die Laudatio zur Ausstellung von Viola Schöpe passt auf Grund aktuellen Bezuges auch in's Feuilleton: Dionysos.


Zeus nahm seinen wegen des Todes seiner Mutter Semele vor der Zeit geborenen Sohn Dionysos und nähte ihn sich in den Schenkel, wo er ihn austrug. Nach seiner zweiten Geburt übergab er das Kind Nymphen, die ihn in Thrakien, also in dem Gebiet zwischen Griechenland und dem heutigen Bulgarien aufzogen, und die später zu seinem Gefolge wurden. Wann geschah dies alles? Nun, wir wissen, dass von eben dort Funde von eindeutig vergorenen Traubenkernen aus der Jungsteinzeit, also von vor ca. 8000 Jahren vor Christi, stammen.


Der Rausch war im Kult des Dionysos ein Mittel, sich mit dem Gott Dionysos zu verbinden. Keine Gewöhnung durch Alltag, sondern ein sorgfältig vorbereitetes und durchgeführtes Ritual. Bei deren Ablauf die griechische Sprache zwischen Enthusiasmus und Ekstase unterscheidet. Natürlich ist Ekstase dabei die Erweiterung enthusiastischen Betreibens. Oder etwa (um es in unsere Zeit zu übersetzen): die sinnliche Befreiung von Überarbeitung?

Für Dionysos würde sich diese Frage heute nicht stellen. Er bediente sich eines Tricks, über den wir nicht verfügen und der dem entfesselten Spätkapitalismus, dem wir uns einerseits hingeben und der sich trotzdem ohne Betäubung so schwer ertragen lässt, sowohl Reiz als auch Überzeugung nehmen würde: er hatte einen Amethyst, der ihn vor Trunkenheit und Dummheit schützte.


Carl Zuckmayer über ein Land, dass uns in der bedingungslosen Hingabe an die calvinistischen Götter der Arbeit weit voraus ist: „…ein Land ohne Tradition, ohne Kultur, ohne Metaphysik und ohne Heurigen, ein Land des Kunstdüngers und der Büchsenöffner, ohne Grazie und ohne Misthaufen, ohne Klassik und ohne Schlamperei, ohne Melos, ohne Apoll, ohne Dionysos.“

Er übertreibt. Aber eben nicht in allen Belangen.


Es gibt Menschen, die, aus Mangel an Erfahrung oder aus Stumpfsinn, sich vom Rausche spöttisch oder bedauernd im Gefühl der eigenen Gesundheit abwenden: die Armen ahnen freilich nicht, wie leichenfarbig und gespenstisch eben diese ihre "Gesundheit" sich ausnimmt, wenn an ihnen das glühende Leben dionysischer Schwärmer vorüberbraust. Sagt Nietzsche.

Folgt man ihm, so darf man auch der These folgen, dass ohne die Möglichkeit und Wahrnehmung des Rausches die Bereitschaft größer ist, sich all den mächtigen Geldruckmaschinisten untertan zu machen, die täglich mit Vorsatz Moral und Sentiment manipulieren, um unseren Geltungsdrang für die Energetik ihres Wachstums zu eutropieren. Dies geschieht mit der Weisheit alter Vampire, die ihre, zu Anfang durchaus jungen, Opfer zur gelegentlichen Nutzung der Restenergie am Leben lassen. Wir steuern dann im höheren Alter nach durch Abstinenz, biologische Nahrungsaufnahme und Körperertüchtigung und andere Formen vorauseilenden Gehorsams.

Ich denke, dass uns nur in den wenigen regellosen Lebensabschnitten, die wir uns gönnen, die Relativität der Zeit so magisch wie offensichtlich erscheint. Die Minuten unserer Träume füllen sich mit mehr Ereignissen, als die Stunden des Tages fassen können. In der Entspannung eines guten Rausches verlieren unsere Gefühle ihre diffuse Einbettung in uns selbst und übernehmen unser Urteilsvermögen, die Zeit als dessen wesentliche Koordinate wird schlicht ignoriert. Im manischen Stadium der Verliebtheit können wir zwar nicht so vollständig der Realität entfliehen wie in Schlaf und Rausch, doch wir agieren in Zeitlupe, setzen unseren eigenen Ereignishorizont und rücken die Welt jenseits des Beobachtbaren.

Dieses „Uebermaass (an Möglichkeiten) enthüllte sich als Wahrheit […]“, zitiert Nico Dorn, dazu passend, Nietzsche: „Und so war, überall dort, wo das Dionysische durchdrang, das Apollinische aufgehoben und vernichtet.“


Der ständige Selbstüberwinder hat sich also klar positioniert in der Auseinandersetzung mit dem bipolaren Begriffspaar, welches die Philosophie den zwei antiken Halbbrüdern entlehnt hat. Es beschreibt, wie wir (Dank Wikipedia) wissen, gegensätzliche Charakterzüge des Menschen. Apollo steht für Form und Ordnung und Dionysos für Rauschhaftigkeit und Schöpfungsdrang.

Viola Schöpes Bilder sind dramatisch, widersprüchlich, bunt und lebensfroh. Das brauchen wir. Da es uns vergessen lässt, dass die Ordnung gerade die Möglichkeiten des Rausches einschränkt…


J.G. 17092020





Zuweisung   (27.05.2020)

 

Der Herr S fühlte sich vom Virus in seiner Existenz bedroht. Bereits Anfang des Jahres fürchtete er sich vor dem fiesen kleinen Wutball aus dem Fernen Osten, der drohte, all den kleinen Konzerten, Verkostungen, Vernissagen und Ausstellungen in seinem Weinladen übers Jahr den Boden zu entziehen. Herr S. veranstaltete diese Menschenzusammenbringungen, weil er auf die Sechzig zuging und hoffte, dass sein Leben und das anderer damit sinnvoll und würdevoll bereichert würde. Dazu Wein zu trinken, könne ja nicht schaden. Er tat dergleichen auch schon ein paar Jahre. Beides.


Herr S. wohnte in einem eher kleinen Stadtviertel. Maler, Bildhauer, Musiker, Schreibende, Weintrinker und andere Lebenskünstler durften hier länger wohnen als anderswo, auch wenn der Erfolg nicht an die Tür klopfte. Das allerdings sollte sich nicht fortsetzen. Jüngere und auch beruflich erfolgreichere Menschen traten (meist) in Dreierkombi auf und beanspruchten Wohnraum. Sie fanden, so ein kleines, hübsches Quartier mit so ursprünglichen Bewohnern und ihren putzigen Festbräuchen, würde sich gut zur Aufzucht des Nachwuchses eignen.


Ihre künstlerischen Ambitionen, der Geruch drohender Aussonderung und der preiswert ordentliche Wein verleiteten viele der verbliebenen Lebenskünstler, sich häufig im Laden des Herrn S. zu treffen. Nicht selten auch zur Ausübung von Kunst. Dies führte bei vielen Zugezogenen zu Unverständnis. Ein Rudel älterer Leute, die das Leben feierten, passe so nicht in dieses Viertel. Schließlich müssten junge Familien tief in die Tasche greifen, um hier leben zu dürfen. Hart arbeiten zu müssen und sich die restliche Zeit um die Kinder zu scheren, beiße sich schon aus Gründen sinnstiftender Moralität mit offen ausgetragenem Hedonismus einer späteren Generation. Dass die das harte Arbeiten und das Scheren um die Kinder einfach lang hinter sich gelassen hatte, fand als Gedanke keinen Weg in die höhere Moralität.


Dann kam der winzige Wutball aus China und befiel die Menschen. Wie jeder andere Ladenbesitzer versuchte Herr S., so lange wie möglich und wie der Gesetzgeber es zuließ, seine Weine zum Erhalt des Ladens zu verkaufen. Er schenkte in aller Legalität noch zwei Tage aus, dann schloss er den Laden für zwei Wochen, kam auf die, wie erfand, ziemlich coole Idee, einen eineinhalb Meter langen Tisch bündig abschließend in die Eingangstür zu stellen und darüber (ungeöffnet, wie es sein Geschäftsmodell hauptsächlich vorsah) Weinflaschen zu verkaufen. Als er durfte, öffnete er wieder, ließ eine Kordelschnur den Eingang versperren und jeweils nur zwei Leute mit Atemmaske rein.


Viele, sehr viele seiner Kunden vermissten das übliche Glas Wein. Sie wiesen Herrn S. darauf hin, dass im benachbarten Partyquartier der Bär steppe und dort niemand den Ausschank verwehre. Der in die Jahre gekommene Herr S. fand trotzdem, dass er sich an die aktuelle Gesetzeslage halten müsse und vertröstete sie.


Zur gleichen Zeit trafen sich die Mütter und Väter des Viertels nebst Kindern täglich in den Höfen, hockten beieinander und besprachen die aktuellen News über ihren Nachwuchs, den Befall mit dem winzigen Wutball und suchten nach Schuldigen ihrer nichtstattfindenden Isolation. Die waren schnell ausgemacht…  


J.G. 17052020